16.04.08

RUDOLF SCHOCK SINGT LUDWIG VAN BEETHOVEN (1)



LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770-1827)

Der Buchstabe B führt mich zum grossen Komponisten Beethoven: dem Musiker von flämischer Herkunft, in Bonn geboren, in Wien gestorben.
Wien: um das Jahr 1800 herum die musikalische Hauptstadt Europas. Die Stadt von Mozart, Haydn und Beethoven. Um 1800 herum auch die Periode, worin Goethe und Schiller die europäische Literatur dominieren.
Ludwig van Beethoven, dessen Hörleiden im Laufe der Jahre zur 'romantischen' Klischeevorstellung werden würde (in Romanen und besonders Filmen, worin dieser Komponist/Dirigent/Pianist UND seine Taubheit eine unveränderliche Rolle spielten), leidet seit dem Jahre 1800 an einer unheilbaren Krankheit, wodurch es ihm in zunehmendem Masse unmöglich wird, sich den eigenen Kompositionen anzuhören. Nach dem Jahre 1819 hört er gar nichts mehr.

Er hat den Wunsch, auch Opern zu komponieren, z. B. eine Faust-Oper (nach Goethe) oder eine Macbeth-Oper (nach Shakespeare), aber es bleibt letzten Endes bei einer einzigen Oper. Eine Oper, die mühsam zustande kommt. Das Werk kennt 3 Fassungen und 4 Ouvertüren. Die 1. Fassung aus dem Jahre 1805 hat 3 Akten und heisst 'Leonore'. Die 2. und 3. Fassung aus bezw. den Jahren 1806 und 1814 haben 2 Akten und heissen 'FIDELIO'. Beethoven versucht immer wieder unter Zuhilfenahme verschiedener Texte und 'des Roten Bleistifts' die Handlung zu beschleunigen. Zugleich vertieft sich die Sicht auf das Thema. Der Charakter des musikalischen Schauspiels ändert sich. Anfangs läuft die Opernhandlung irdisch und konkret ab. Später spielt sich das Werk auf abstrakterem, höherem Niveau ab. Allmählich gerät die Oper unter den Einfluss der damaligen grossen, politischen Veränderungen in Europa. Beethoven lässt sich vom Freiheits- und Gleichheitsideal UND von Friedrich Schillers Ideen inspirieren. Schiller betont, die Freiheit des Andern dürfe beim Freiheitsstreben des Individuums nie aus den Augen verloren werden. Jedermanns persönliche Freiheit werde von der Freiheit des Andern eingeschränkt. Die Freiheit des Menschen sei unter allen Umständen eine 'Freiheit in Gebundenheit' (Vgl. Schillers 'Ode an die Freude' mit dem berühmten Statement 'Alle Menschen werden Brüder' im opernhaften (!) Finale der Neunten Beethoven-Symphonie).

Wie wir heute 'Fidelio' (in der endgültigen Fassung aus dem Jahre 1814) kennen, haben die sich ändernden Zeiten, worin das Werk sich entwickelte, überdeutlich Spuren hinterlassen:
Die sechseinhalb Minuten dauernde Ouvertüre ist die der letzten Fassung, aber in mancher Ausführung wird mitten im 2. Akt, dem Opernfinale vorangehend, eine als 'Leonore 3' bezeichnete zweite Ouvertüre gespielt. Diese Ouvertüre war eigentlich für die 2. Premiere im Jahre 1806 gemeint, aber bei näherer Betrachtung fand Beethoven sie doch zu lange dauern, und das ist verständlich, weil sie mehr als 15 Minuten zählt! Es ist auf den ersten Blick denn auch erstaunlich, dass Dirigent/Komponist Gustav Mahler und später u.a. Dirigent Wilhelm Furtwängler diese 3. Leonore-Ouvertüre als ZWISCHENSPIEL mitten im 2. Akt der Oper ausführen lässen! Bei der Besprechung der Furtwängler-Aufnahmen komme ich gerne darauf zurück.

Die Dialoge und die vokalen Nummern im ersten Teil der Oper (Duett Jaquino-Marzelline, Arie von Marzelline und Roccos Arie 'Hat man nicht auch Gold beineben') haben in bezug auf den Stil ihren Ursprung in der Tradition der so genannten 'Spielopern': komischer Opern mit gesprochenen Texten und irdischen Themen. Marzelline ( Vgl. Ännchen in Von Webers 'Freischütz', aber auch die nach Liebe schmachtenden Mädchen bei Lortzing und Von Flotow) hat sich ernsthaft in 'Fidelio' verliebt, von dem sie denkt, 'er' sei ein Mann. Rocco, Marzellines Vater, meint, 'Fidelio' sei eine gute Partie für seine Tochter, weil 'dieser' imstande ist, gut mit Geld umzugehen. Jaquino hat dagegen das Nachsehen: Er möchte Marzelline für sein Leben gern heiraten, aber umgekehrt ist das gar nicht der Fall. Die Bravourarie des schurkischen Pizarro (1. Akt Nr. 8) ist wieder kennzeichnend für einen andern Stil, und zwar den italienischen.
Das monumentale Marzelline-Leonore-Rocco-Jaquino-Quartett 'Mir ist so wunderbar'(1. Akt Nr. 3) ist, was die Form betrifft kennzeichnend für den Beethoven-Stil, aber die sich völlig voneinander unterscheidenden Textinhalte der vier gesungenen Monologe, die auf ingeniöse Weise musikalisch mit- und ineinander verflochten sind, bleiben - mit Ausnahme von Leonores Monolog - der Erdoberfläche nahe.
Erst beim Chor der Gefangenenen im 1. Akt (Nr. 11: 'O, welche Lust') ändert sich die Atmosphäre der Oper. Der Begriff 'Freiheit' ist aber auch in diesem Moment noch nicht viel mehr als eine Befreiung aus der Gefängniszelle.





















Im 2. Akt ist alles anders. Die Handlung konzentriert sich auf den politischen Gefangenen Florestan und seine heroische Gattin Leonore, die ihren Geliebten mit dem Körper schützt in dem Augenblick, da Pizarro ihn ermorden will. Sofort schon - im Anfang der 2. Akt - klingt die Musik der Verzweiflung. Diese Verzweiflung wird vom Tenor im ersten Teil seiner grossen Arie ('Gott! Welch Dunkel hier!') weitergeführt. Im Zwischenteil erinnert sich Florestan mit Wehmut an glücklichere Tage: 'In des Lebens Frühlingstagen'. Dann verwandelt sich die Musik radikal: Erst das Orchester und dann der Tenor jubeln vor Begeisterung: 'Und spür' ich nicht linde sanft säuselnde Luft!' Leonore erscheint vor Florestans geistigem Auge wie ein Engel im Grabe, der ihm die himmlische Freiheit schenkt. Absolute Verzweiflung löst sich in göttlicher Herrlichkeit auf! Die Liebe für eine heroische Frau, eine Liebe die vom Himmel gegeben und nicht von dieser Erde ist, befreit den Menschen. Die Stimmen von Florestan und Leonore vereinigen sich im leidenschaftlichen Duett: 'O namenlose Freude!'

DIE FIDELIO-AUFNAMEN MIT RUDOLF SCHOCK
Es gibt VIER mehr oder weniger vollständige Aufnahmen mit Rudolf Schock. In all diesen Aufnahmen singt Schock die kleinere (Haupt)Rolle des jungen Gefängnisportiers Jaquino. Daneben gibt es eine Stereo-Studio-Aufnahme der Florestan-Szene einschliesslich der Introduktion für Orchester (Anfang 2. Akt).
Von den vier Fidelios sind drei Aufnahmen live: Salzburg 3.8.1948 unter Wilhelm Furtwängler, Wien 5.6.1953 unter Herbert von Karajan und Wien 12.10.1953 unter Furtwängler.
Die einzige vollständige Studio-Aufnahme ist zwischen dem 13. und 17. Oktober 1953 auf Schallplatte (Electrola/Emi) festgehalten, und wird auch von Furtwängler dirigiert. Die Sängerbesetzung stimmt nahezu mit jener der Live-Ausführung vom 12. Oktober 1953 überein.

1948: Live-Salzburg am 3. August (u.a. CD auf TAHRA unter nr. FURT 1047-1048) mit Erna Schlüter (Leonore), Lisa della Casa (Marzelline), Julius Patzak (Florestan), Ferdinand Frantz (Don Pizarro), Otto Edelmann (Don Fernando), Herbert Alsen (Rocco), Hermann Gallos (1. Gefangene), Kart Dönch (2. Gefangene) und WILHELM FURTWÅNGLER (Dir.)















Diese Aufnahme der Salzburger Festspiele aus dem Jahre 1948 ist tontechnisch akzeptabel, aber die Nummern 5 - 8 des 1. Aktes fehlen. Es gibt mehrere Produzenten, die diese unvollständige Aufnahme herausgebracht haben. Die Tonqualität ist überall dieselbe. Meine 'Fidelio-1948' ist eine Veröffentlichung des französischen Tahra-Labels.

Der legendäre Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886-1954) hält die Tempi ziemlich langsam. Die Dialoge sind vollständiger als in den späteren Aufnahmen.
Erna Schlüter (1904-1969) als Leonore singt mit starkem Vibrato und macht auch darstellerisch geringeren Eindruck als Martha Mödl in den anderen drei Aufnahmen.

Julius Patzak (1898-1974) ist ein idealer Florestan. Er öffnet die Arie 'Gott! Welch Dunkel hier!' buchstäblich-meinen Atem -beraubend (crescendo: zuerst ganz leise, dann zunehmende Tonstärke). Der Arienschluss ist tatsächlich eine Klimax. Wohl - und das macht Wolfgang Windgassen in den übrigen Aufnahmen anders - klingt Patzak im Finale der Oper äusserst vital. Für einen, der nach Hunger und langwieriger Gefangenschaft sehr geschwächt sein muss, scheint mir dies eine übernatürlich schnelle Besserung zu sein.
Ferdinand Frantz (1906-1959) und Otto Edelmann (1917-2003) singen die beiden, einander entgegengesetzten Rollen des bösartigen Gefängnisdirektors Don Pizarro und des gerechten Ministers und Bringers glücklicher Zeiten Don Fernando. Frantz ist ein echter Heldenbariton, und das gehört sich so. Edelmann ist ein echter Bass-Bariton von grossherzigem Format und das gehört sich auch so.

Lisa della Casa (1919-) ist eine vortreffliche Marzelline, und der Gefängnisaufseher Rocco, ihr Vater, wird genauso vortrefflich vom Bassisten Herbert Alsen (1906-1978) gesungen. Alsen mutet in seinen Dialogen aber wohl ziemlich väterlich-brav an.
Der Gefangenenchor singt kräftig, und Hermann Gallos (1886-1957) und Karl Dönch (1915-1994) als die zwei Gefangenen sind stark unterschiedlich, aber beide gut. Gallos bedient sich einer Art von 'Sprechgesang', und Dönch warnt expressiv vor Übermut.
Auf RUDOLF SCHOCK in der JAQUINO-ROLLE komme ich weiter im Text nach Besprechung der vier Aufnahmen zurück.

1953: Live-Aufnahme vom 5. Juni aus dem Saal des Wiener Musikvereins (WALHALL WLCD 0063) mit Martha Mödl (Leonore), Elisabeth Schwarzkopf (Marzelline), Wolfgang Windgassen (Florestan), Josef Metternich (Don Pizarro), Hans Braun (Don Fernando), Otto Edelmann (Rocco), Erich Majkut (1. Gefangene), Hans Schweiger (2. Gefangene) und HERBERT VON KARAJAN (Dir.)



















Der Sommer vom Jahre 1953 trennt diese konzertant ausgeführte 'Fidelio' von der Live-Aufnahme aus dem Theater an der Wien (wo die Wiener Staatsoper bis November 1955 spielte) und der bekannten Studio-Aufnahme, beide unter Furtwängler.
Die Aufnahme ist in bezug auf den Orchesterklang mässig. Die menschlichen Stimmen kommen glücklicherweise besser zur Geltung. Herbert von Karajan (1908-1989) ist an mehren Stellen in der Partitur schneller als Furtwängler im Jahre 1948. Er lässt im Geiste Beethovens im 2. Akt das Zwischenspiel mit der Leonore-3-Ouvertüre aus. Das Quartett 'Mir ist so wunderbar' ist wieder langsamer als bei Furtwängler, aber genauso schön.
Der Schluss des 1. Aktes ist verlorengegangen, aber wird von Walhall durch denselben Teil aus der Furtwängler-Live-Ausführung (12.10.1953) ersetzt. Im Hinblick auf die Spannungen, die es in den frühen Fünfzigern zwischen Von Karajan und Furtwängler gab, hätten beide Dirigenten, wenn sie noch am Leben wären, gegen eine solche Lösung gewiss energisch protestiert.
Die Dialoge fehlen in dieser Aufführung aus dem Konzertsaal. Auch hat Von Karajan dem Publikum vielleicht den Auftrag gegeben, nach den einzelnen Opernnummern nicht zu applaudieren.

Martha Mödl (1912-2001) macht als Leonore grossen Eindruck.
Elisabeth Schwarzkopf (1915-2006) scheint mehr mit technisch vollendetem Gesang als mit der Marzelline-Figur beschäftigt. Im Duett mit Schock (1. Akt Nr. 2) fällt das noch nicht auf. Aber in der Arie danach schleicht schon ab und zu Manieriertheit in ihre vokale Darstellung.

Der Heldentenor von Wolfgang Windgassen (1914-1974) klingt nicht nach dem Alter, das Windgassen im Moment der Ausführung hatte. Sein Florestan ist in seiner Interpretation ja durch langjährige Gefangenschaft älter geworden und sehr geschwächt. Er arbeitet am Ende seiner Szene auf eine wahre Klimax hin.
Josef Metternich (1915-2005) scheint auf das erste Gehör der gegebene Heldenbariton für die Rolle des korrupten Don Pizarro zu sein. Wie Metternich z.B. das Wort 'Mörder' fast röchelnd singt, macht keiner ihm nach, aber dennoch bin ich der Meinung, dass es seiner Pizarro-Darstellung, mit der von Otto Edelmann (1953) verglichen, an Subtilität fehlt.
Otto Edelmann (1917-2003) singt jetzt nicht wie im Jahre 1948 den grossherzigen Don Fernando, und seine 1953-Aufnahmen als Don Pizarro waren noch nicht gemacht worden. Dieses Mal singt er eine dritte (!) Hauptrolle in 'Fidelio' und zwar die von Rocco. Man könnte sagen, dass er auf der Schallplatte in ein und derselben Fidelio-Aufnahme die drei Bass/Bariton-Rollen hätte singen können. Aber sein Rocco ist eine Enttäuschung. Wenn es sich um reinen Gesang handelt, ist er perfekt (Quartett im 1. Akt!), aber im übrigen bleibt er dem einerseits ziemlich opportunistischen und andrerseits menschlichen und sympathischen Rocco allerhand schuldig. Edelmann kann mit Roccos Charakter nicht zurechtkommen, und bleibt in einem neutralen oratoriumhaften Gesang stecken.
Hans Braun (1917-) ist prima als Don Fernando.

Im Gefangenenchor herrschen das Zaudern und Zittern vor: Man erlebt in Von Karajans Darstellung, wie sich die blinzelnden Augen der befreiten Gefangenen ans Tageslicht gewöhnen müssen. Man versteht den Unglauben, womit sie der Freiheit entgegengehen. Die beiden Gefangenen (Erich Majkut und Hans Schweiger) singen schlotternd vor Angst.

1953: Live-Aufnahme vom 12. Oktober der Wiener Staatsoper aus dem Theater an der Wien (ARCHIPEL ARPCD 0181-2) mit Martha Mödl (Leonore), Sena Jurinac (Marzelline), Wolfgang Windgassen (Florestan), Otto Edelmann (Pizarro), Alfred Poell (Don Fernando), Gottlob Frick (Rocco), Hermann Gallos (1. Gefangene), Franz Bierbach (2. Gefangene) und WILHELM FURTWÄNGLER (Dir.)














Diese 'Fidelio' halte ich für die schönste!
Die Operndialoge sind auf ein Minimum von kaum acht Minuten reduziert worden. Vor Dezennien gab es schon die Schallplatte (auf dem Replica-Label mit dünnem Stereo-Anstrich). Später kamen die CDs. Aber 2003 produziert Archipel eine noch präsentere und wärmer klingende Live-Aufnahme von 'Fidelio'. Die Theateratmosphäre ist möglichst fühlbar und erreicht für mich den Höhepunkt - wie ist das nur möglich! - ausgerechnet bei der Leonore-3-Ouvertüre im Herzen des 2. Aktes.














Hätten Gustav Mahler und Wilhelm Furtwängler dann doch recht gehabt? Zuerst überwältigt ein heftig gesungenes 'O namenlose Freude!' das Wiener Publikum im 20. UND den 'Fidelio'-hörer im 21. Jahrhundert. Dann spielen die Wiener Philharmoniker (wie die Niederländer sagen) 'die Sterne vom Himmel' während einer noch immer mehr als fünfzehn Minuten dauernde Leonore-3-Ouvertüre. Einen ganz kurzen Augenblick gibt es so etwas wie den Anfang donnernden Beifalls, und noch bevor Applaus und Jubelgeschrei die Gelegenheit bekommen, Hören und Sehen vergehen zu lassen, feuert Furtwängler den Startschuss zum grossen und grandiosen Finale ab! Welch ein einmaliger Theatermensch war dieser Dirigent, und wie unrecht hatten/haben die Kritiker, die Furtwängler Trägheit vorwarfen/vorwerfen und ihn mehr einen Oratorien- als einen Operndirigenten fanden/finden! Gesetzt den völlig fiktiven Fall, ich dürfe selber eine 'Fidelio' dirigieren, würde ich ohne Bedenken auch für einen 2. Akt MIT Zwischenspiel wählen.
Ich darf nicht vergessen, zu bemerken, dass Furtwängler 1953 bedeutend schneller ist als im Jahre 1948.

Die Solisten sind ohne Ausnahme mustergültig: Mödl ist aufs neue überzeugend und grossartig als Fidelio/Leonore. Windgassen ist ergreifend. Er durchläuft die verschiedenen Phasen seiner grossen Szene mit skrupulöser Aufmerksamkeit für jedes Detail. Nur die Steigerung am Schluss realisiert er nicht ganz.

















 
Sena Jurinac (1921-) singt Marzelline rührend schön. Sie ist von den drei Marzellinen die eindruckvollste!






Sena Jurinac als Marzelline (1953)











Gottlob Frick(1906-1994) ist ein intelligenter Rocco, der mit seiner 'schwarzen' Bass-Stimme den beiden Seiten des Rocco-Charakters mühelos Form und Inhalt gibt.

Otto Edelmann als Pizarro ist Metternich überlegen, aber übertrifft auch Frantz (1948). Er singt die 'italienische' Arie aus dem 1. Akt agressiv und ist im Gesang genauso wie im Dialog frostig und grimmig. Welch ein Unterschied mit der Manier, worauf er unter Von Karajan den Rocco NICHT charakterisiert!
Alfred Poell (1900-1968) ist mit seiner würzigen Stimme vollkommen glaubhaft als humaner Herrscher, der eine neue und bessere Zeit ankündigt.

Der Gesang des Gefangenenchores unterstricht das graue Schicksal Florestans. Gallos als erster Gefangener wiederholt die feinsinnige Leistung aus dem Jahre 1948 und zweiter Gefangener Franz Bierbach ist ein Bassist, dessen schöne Stimme der von Frick ähnelt.

1953: Studio-Aufnahme vom 13. - 17. Oktober aus dem Saal des Wiener Musikvereins (EMI CLASSICS CHS 764496 2 und auf NAXOS 8.111020-21) mit DENSELBEN SOLISTEN UND DEMSELBEN DIRIGENTEN wie in der Live-Aufnahme vom 12. Oktober mit einer einzigen Ausnahme: Der 1. Gefangene wird nicht von Hermann Gallos gesungen. Auch nicht von Alwin Hendricks, wie schon 55 Jahre auf den LP- und CD-Covern seht, sondern von dessen Bruder: Rudolf Schock!






















Diese Studio-Aufnahme legt tatsächlich die Live-Fidelio-Premiere, die einige Tage davor stattfand, fest. Wenn man die Aufnahmen direkt nacheinander hört, ist der Unterschied gross: Die Theater-Atmosphäre am 12. Oktober macht abrupt der relativen Sterilität des Studios-ohne-Publikum Platz (wenn auch dieses Studio sich im Saal des Wiener Musikvereins befindet, wo Von Karajan Juni 1953 seine konzertante Fidelio zu Gehör brachte).
Die Leonore-3-Ouvertüre befindet sich jetzt einsam isoliert zwischen 'O namenlose Freude!' und dem Opernfinale, wodurch die Handlung drastisch unterbrochen wird. Dazu kommt, dass die EMI-CDs ein wenig verhalten klingen. Die Naxos-Wiederveröffentlichung, die von möglichst unbeschädigten LPs kopiert worden ist, macht den Eindruck, etwas natürlicher und direkter zu klingen: zum Beispiel Schocks Stimme mutet authentischer und etwas präsenter an.
Die Dialoge fehlen, aber die Solisten sind im grossen und ganzen genauso gut wie in der Live-Performance. Das Quartett 'Mir ist so wunderbar' könnte vielleicht wohl das allerschönste der vier Ausführungen genannt werden. Windgassen erreicht nun wohl eine Klimax in der grossen Florestan-Szene, und der Sänger. der den Ersten Gefangenen singt, heisst Rudolf Schock (siehe Video oben!!)

RUDOLF SCHOCK ODER ALWIN HENDRICKS ALS 1. GEFANGENER
Hinten in Schocks Biographie steht es in der detaillierten Diskographie zum ersten Mal schwarz auf weiss: Rudolf Schock singt in dieser Studio-Aufnahme aus dem Jahre 1953 nicht nur den Gefängnispförtner Jaquino, sondern auch den 1. Gefangenen.
Warum sind die neueren CD-Veröffentlichungen in diesem Punkt nie korrigiert worden? Warum erwähnt man bei dieser Rolle immer wieder den Namen des älteren Bruders Alwin (wie ich es verstanden zu haben glaube)?

Es ist dokumentiert worden, dass Alwin Schock (1911-1959) unter dem Artistennamen ALWIN HENDRICKS nach dem Krieg an der Berliner Staatsoper sang. Einst sah ich sein Photo in einem Gedenkbuch der Berliner Oper. In Rudolf Schocks Biographie kommt der zweitälteste Bruder Alwin, zusammen mit seiner Gattin Else, wiederholt nach vorne als jemand, der Rudolf Schock(s Familie) in den chaotischen, ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vielfältig unterstützte und stimulierte.
Alwin Hendricks Stimme kann man wohl (kurz) in einer Schallplatten-Aufnahme (jetzt auch auf CD) mit Rudolf Schock hören. Es betrifft eine Opernszene aus 'Les Contes d'Hoffmann' von Jacques Offenbach ('Es war einmal am Hofe von Eisenack') vom 5. November 1954. Er singt die Rolle eines Studenten.
Warum der Name 'Alwin Hendricks' mit der Furtwängler-Studio-Aufnahme von 'Fidelio' verknüpft bleibt, ist ein Rätsel. Wahrscheinlich liegt irgendeine Erklärung auf der Hand (Hendricks könnte z. B. sehr kurz vor der Aufnahme krank geworden sein, und Rudolf Schock könnte es eine gute Sache gefunden haben, Alwins Namen auf diese Weise für die Nachwelt zu erhalten??), aber nirgendwo habe ich je eine Erklärung gelesen oder gehört.

Als letztes muss ich nur noch sagen, dass Rudolf Schock den 1. Gefangenen - im Gegensatz zu Hermann Gallos, dessen SPRECHgesang eine schöne Wirkung hat - vor allem SINGT. Schock legt den vielsagenden Akzent auf das zentrale Wort 'Freiheit', und auch das hat schöne Wirkung.

RUDOLF SCHOCK ALS JAQUINO




















Rudolf Schock singt diese Rolle zum ersten Mal in Hannover (Januar 1946). Danach (siehe oben) 1948 unter Furtwängler bei den Salzbuger Festspielen. Dann zwischen dem 1. Juni 1953 und dem 15. Dezember 1957 mindestens 15 Male in Wien. Darunter die schon genannte konzertante Ausführung unter Von Karajan. Es fällt auf, dass Schock diese kleinere Rolle bis Ende 1957 auf der Bühne gesungen hat. In der Biographie (Seite 243) erzählt Schock, dass er sich 1948 intensiv auf die Rolle vorbereitet. Nicht nur, weil er stolz darauf ist, dass Furtwängler ihn für diese Rolle auserkoren hat, sondern auch weil dieser ihm erklärt: "an dem Quartett 'Mir ist so wunderbar' muss ein den anderen Solisten stimmlich gleichwertiger lyrischer Tenor beteiligt sein, sonst gerät das Ganze aus den Fugen".

Nebenbei bemerkt Schock, dass Furtwängler "äusserst liebenswürdig" und geduldig mit 'seinen'' Sängern umgeht, aber dass er "wirklich gefürchtet" ist, weil er den Sängern "kaum oder nie klare Einsätze" gibt.

Schocks Stimme ist 1948 (Duett Marzelline-Jaquino) eine Kleinigkeit 'heldischer' als 1953. Er singt (und spielt) die Jaquino-Rolle jedes Mal angenehm einfach im Stil der deutschen Spieloper. Im Quartett ist er ganz und gar der hochkwalifizierte, lyrische Sänger, den Furtwängler vor Augen gehabt haben muss.
Die heutige Kritik staunt und konstatiert, das Sena Jurinac und Rudolf Schock 'grandios' und 'hervorragend' sind: Die Bezeichnung 'Luxusstimmen' taucht auf und ein englischer Kritiker sagt: "Schock might very well filled in for Windgassen". Auch Leo Riemens urteilt vor vielen Jahren , dass Schock"...einfach den Florestan hätte singen können".
Ich glaube, dass das so hätte sein können. Jedenfalls für die Schallplatte. Andere Schock-Aufnahmen aus den fünfziger Jahren mit 'heldischen' Tenorpartien beweisen das. Dann - September 1966 - nimmt Schock mit 'seinem' Operndirigenten Wilhelm Schüchter eine Solo-LP mit Arien von Mozart, Gluck und u.a. auch von Beethoven auf. Aus 'Fidelio' singt er (wahrscheinlich zum ersten Male) die grosse Szene von Florestan: 'Gott! Welch Dunkel hier....'.

RUDOLF SCHOCK ALS FLORESTAN
1966: Studio-Aufnahme ('Eine unvergessene Stimme' SONY/EURODISC GD 69314) : 'Introduktion' (Orchester) und Szene 'Gott! Welch Dunkel hier' (Florestan) aus dem 2. Akt von 'Fidelio' mit WILHELM SCHÜCHTER (Dir.)














Eurodisc bringt einige Jahre nach Schocks Tode drei CDs unter dem Titel 'Rudolf Schock, eine unvergessene Stimme' heraus. Eine CD ist der (deutschen) Oper, eine der Operette und eine dem Volkslied gewidmet.

Die Florestan-Aufnahme (auf der 1. CD) ist selbstverständlich stereo. Schüchter dirigiert die orchestrale Introduktion nicht so dramatisch wie Furtwängler. Seine eher romantische Auffassung befindet sich irgendwo zwischen Furtwängler und Von Karajan. Schock ist prachtvoll bei Stimme und zeigt, dass er für die Szene kompetent ist ( In 'Opera on Record', veröffentlicht von Alan Blyth 1979, wird das bestätigt).

Schock (im Moment der Aufnahme 51 Jahre alt) betont das Altern und die Auszehrung Florestans nicht. Seine klare Darstellung, was Text und Musik betrifft, ist erzählend und angemessen. Er lässt bald lyrisch, bald heldisch Beethovens Musik aus sichselbst sprechen oder - besser - singen. Das Ergebnis ist, dass er Florestan dem irdischen Jammertal entsteigen lässt und auf eine höhere Ebene bringt. Und was die Klimax der Arie angeht? Die bekommen wir auch und zwar als ein überraschendes Geschenk.

Krijn de Lege, 21.4.2008
(NÄCHSTES MAL: RUDOLF SCHOCK IN BEETHOVENS 'MISSA SOLEMNIS' (UNTER DIRIGENT OTTO KLEMPERER) und 'DIE HIMMEL RÜHMEN DES EWIGEN EHRE')